Was uns interessiert Wenn es bimmelt, denkt der Professor also an die Arbeit? „Nein, ich höre Glocken im- mer noch sehr gern, wohne seit 35 Jahren in der Nähe von Kirchtürmen“, sagt der gebür- tige Kaiserslauterer, der seit 22 Jahren in Waltenhofen zu Hause ist. „Und ich fand es toll, als die noch nachts geläutet haben. Dann wusste ich immer, wie lange ich noch schlafen kann.“ Was ihm noch beim Glo- ckenklang in den Sinn kommt: Badewanne. Denn als Kind musste er samstags immer beim Abendläuten nach Hause flitzen, um zu baden. Deutlich später, in den 1990erJahren, war Andreas Rupp am FraunhoferInstitut in Darmstadt mit der Materialforschung be schäftigt, als zwei GlockengießerDynastien einen über mehrere Generationen schwelen den Streit wissenschaftlich beilegen lassen wollten: Hält eine Glocke länger, wenn man sie in der Aufhängung ab und an dreht? Rupp fand heraus: Ja, aber sie darf nicht um 90 Grad gedreht werden, sondern um 20 bis 40. Damit hatte der Ingenieur sein wis senschaftliches Steckenpferd gefunden. „Die Fragen der Materialbehandlung kenne ich ja aus dem Fahrzeug und Flugzeugbau, wo ich immer noch viel forsche“, erklärt er, „aber hier kommt die Musik dazu, die Tradition, auch spirituelle Aspekte – das geht weit über bloße Ingenieurskunst hinaus. Denn Glo ckenklänge können tief berühren und bedeu ten für viele Leute auch einfach Heimat.“ In einem großen europäischen Forschungspro jekt untersuchte er – mittlerweile Professor in Kempten – ab 2005, welche Bedingungen die Lebensdauer von Glocken verlängern. Seitdem steht sein Schalllabor voller Bronze riesen aus Deutschland und Österreich, aus der Schweiz, Frankreich, Italien und Spani en – die größten eine knappe Tonne schwer und mit einem Durchmesser von eineinhalb Metern. Schon vor dem Eingang wirken vier verwitterte Kolosse wie Grüße aus der Ver gangenheit auf dem modernen Hochschul campus. Auch wenn die Glockenformen alle ähnlich aussehen, die Läutekultur unter scheidet sich von Land zu Land erheblich – je weiter südlich, desto lauter und schriller soll es klingen: Deutschland und die 24 1 Was uns interessiert 2 3 1 – Eierkartons in XXL Riesige Schaumstoff- kegel an Wänden und Decke schirmen den Hochschul- campus von den lautstar- ken Forschun- gen ab 2 – Schläger- typen Klöppel in unterschiedli- chen Formen, Materialien und Gewichten für die Suche nach dem schonendsten Klang 3 – Trotz Computer Für manche Skizzen und Berechnungen schätzt der Prof noch Stift und Papier Schweiz lassen den Klöppel vergleichsweise dezent bei einer Glockenstellung von „acht Uhr“ zum sogenannten Klöppelkuss auf treffen, in Österreich schlägt er erst bei „zehn Uhr“ an, in Italien ganz oben und in Spanien lässt man die Glocken gleich rund um ihre Aufhängung Saltos schlagen. In dem fast kubusförmigen Schall labor mit den riesigen beigen Schaumstoff pyramiden an Wänden und Decke können die Wissenschaftler es – na ja – nicht kra chen, aber doch ordentlich läuten lassen, ohne dass der Hochschulbetrieb draußen zu sammenbricht. Früher wurde hier die Lärm entwicklung von Traktoren untersucht, auch heute noch zuweilen Maschinen oder Haus haltsgeräte. „Wir haben mal zehn Glocken ein halbes Jahr lang 24/7 durchläuten lassen, um 100 Jahre Glockenleben zu simulieren“, erinnert sich der Professor. „Da hörte man draußen nur ein leises, sonores Brummen.“ Die großen Glocken in Holz oder Stahl stühlen sind mit Sensoren bestückt und verkabelt. Sie messen zum Beispiel die Be schleunigung, mit der der Klöppel anschlägt, oder die Verformung der Glocke beim Läu ten in Nanometern. Immerhin muss die Glo ckenwand in der halben Tausendstelsekunde des Aufschlags das 500Fache des Klöppel gewichts aushalten. Klöppel in allen Formen und Größen liegen im Labor bereit, ver schiedene Gewichte, um sie zu bestücken, schmale Mikrofone und – ganz wichtig! – Ohrenschützer. „Hier können wir Glocken umhängen, Gewichte dranhängen, Puffer an den Klöppel montieren und Ähnliches. Das geht live im Kirchturm nicht, immerhin wiegen manche Klöppel bis zu 900 Kilo“, erklärt der Hausherr. Und schlägt jetzt mit dem Gummihammer eine Glocke an, die kopfüber auf dem Boden steht. An der Seite haben die Wissenschaftler einen Schlitz hineingeschnitten, um einen großen Riss zu simulieren. Und tatsächlich: Selbst der Laie hört hier im Labor, dass der Ton merkwürdig vibriert. Rupp und sein Kollege Michael Plitz ner, passenderweise Ingenieur und Theologe gleichzeitig, haben Messmethoden und Analysemodelle entwickelt, die beim Läuten erkennen, ob eine Glocke bereits Schaden genommen hat oder ob das demnächst droht, zum Beispiel weil die Aufhängung nicht passt, weil sie an der falschen Stelle ange- schlagen wird, weil der Klöppel zu hart ist oder die falsche Form hat. „Manchmal zer- stören Glocken mit der Zeit sogar den Turm, weil sie falsch aufgehängt sind“, sagt Rupp. Bei zwei Minuten Messung kommen pro Glocke rund 120 Megabyte Daten zusam- men. Für die Auswertung braucht man extra leistungsstarke Computer. „Die haben wir durch unsere Arbeit mit Fahr- „Der Klang von Kirchenglocken bedeutet für viele Menschen einfach Heimat.“ Andreas Rupp Professor für Material- forschung an der Hochschule Kempten 25